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Slowakei 2017

Europas unbekannte Mitte – Kultur und Geschichte im Herzen des Kontinents

Anmerkungen zu einer Reise in die Slowakei von Winfrid Halder

 

Visionen in Bad Piešťany

Hier sieht man besser mit geschlossenen Augen: Damen mit langen Kleidern und wagenradgroßen, federgeschmückten Hüten. Begleitet von Herren in maßgeschneiderten Anzügen. Oder von Offizieren in eleganten Uniformen. Sagen wir dunkelblaue, goldverschnürte Attilas und rote Tschakos; sie gehören also dem k. u. k. Husarenregiment »Graf Radetzky« Nr. 5 an und sind aus ihrer Garnison in Preßburg herübergeritten gekommen. Sie grüßen Vorübergehende lässig mit zwei Fingern an der Kopfbedeckung. Ein mächtiges Gebäude im Hintergrund: Hellgelb gestrichen, geziert von einer Vielzahl von Türmchen und Erkern, großzügige Arkaden im Erdgeschoß. Der Schriftzug darüber weist es als »Grand Hotel Ronai« aus, ganz unübersehbar nur ein Ort für zahlungskräftige Gäste. Aus den weit geöffneten Fenstern des Festsaals dringt gedämpft Walzermusik. Über alldem liegt ein sanfter Hauch von – faulen Eiern.

Denn wir befinden uns ja in einem Heilbad, in dem stark schwefelhaltiges Wasser mit einer Temperatur von nahezu 70 Grad Celsius aus dem Boden quillt. Deswegen kamen schon im Mittelalter Heilung von allerlei Gebrechen erhoffende Menschen hierher nach Piešťany oder Pistyan oder Pöstyény – je nachdem, ob der slowakische, der deutsche oder der ungarische Name des Ortes bevorzugt wird.

Ich öffne meine Augen wieder und was ich sehe, stimmt eher trübe: Von imposanter Größe ist das Gebäude, soweit es hinter dem hässlichen, von Graffitis auch nicht wirklich verschönten Bauzaun zu erkennen ist, natürlich immer noch. Seine einstige Farbe ist indes mehr zu erahnen, denn zu erkennen. Putz bröckelt an vielen Stellen, eine Vielzahl von Fensterscheiben ist zerbrochen, dem Dach fehlen nicht wenige Ziegel. Auf den kupfernen Hauben der Türmchen ringen Rost und Grünspan um die Vorherrschaft. Ganz unübersehbar ist: Hier gehen gar keine Gäste mehr ein und aus, schon gar keine zahlungskräftigen.

Dabei war es einmal das erste Haus am Platz: 1906/07 hatte der ambitionierte Budapester Kaffeehausbesitzer Adolf Ronai das bis dahin größte und luxuriöseste Hotel in Piešťany bauen lassen. Wie selbstverständlich holte er dazu mit Adolf Oberländer einen Architekten, der in Wien, der Hauptstadt der Habsburgermonarchie, in deren »oberungarischem« Teil der Kurort sich befand, schon einiges an Bekanntheit erlangt hat. Die Lage war formidabel: Direkt am Rande des Parks, selbst für weniger bewegliche Gäste waren die Kuranlagen mit dem heißen Schwefelwasser in wenigen Minuten zu erlaufen. Zur Zeit der Errichtung des »Grand Hotel Ronai« war Piešťany zudem bereits bequem von Wien über Preßburg (Bratislava) und von Budapest über Gran (Esztergom) und Galánta in wenigen Stunden mit der Eisenbahn erreichbar. Dass der rührige Inhaber auf ein vermögendes Publikum aus den Metropolen der Habsburgermonarchie setzte, ein Publikum, dem vielleicht der Weg ins noch etwas mondänere böhmische Karlsbad oder ins ebenfalls böhmische Teplitz zu weit war, liegt auf der Hand.

Diese Rechnung mag einige Jahre lang aufgegangen sein – der Erste Weltkrieg machte sie zunichte, als das Hotel gerade einmal seit sieben Jahren florierte. Die schneidigen Husaren-Offiziere verschwanden schon im Sommer 1914. Und soweit sie nicht – mittlerweile ganz unspektakulär feldgrau gekleidet und ihrer stolzen Rappen längst ledig – in irgendeinem Schützengraben blieben, waren sie nach 1918 vielleicht noch irgendwo als Eintänzer tätig, denn niemand brauchte mehr Kavallerieoffiziere. Die zivilen Herren mit ihren Damen sahen ihr Vermögen nicht selten durch jetzt wertlose Kriegsanleihen und die grassierende Nachkriegsinflation hinweggeschmolzen. Darüber hinaus hatten die einstigen Gäste aus Wien und Budapest jetzt Landesgrenzen zu überwinden, um an die warmen Quellen von Piešťany zu gelangen. Hatte dieses bis 1918 zum alten Königreich Ungarn gehört, so war es nun an den neu gegründeten tschechoslowakischen Staat gefallen. Dessen Beziehungen zum ungarischen Reststaat waren nicht die allerbesten, nicht zuletzt weil sich – endgültig seit dem von den Siegermächten diktierten Friedensvertrag von Trianon vom Juni 1920 – viele Ungarn unversehens damit konfrontiert sahen, nunmehr alles andere als wunschgemäß tschechoslowakische Bürger zu sein. Auch das weitverzweigte ungarische Magnatengeschlecht der Erdödy, größter Grundbesitzer und Verpächter der Badeanlagen in Piešťany, hatte es nun bezüglich seines verstreuten Besitzes mit einer ganzen Reihe von staatlichen Gegenübern zu tun. Denn zwei Drittel des bisherigen Königreichs Ungarn waren an fünf Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie gefallen, nur der weit kleinere Rest verblieb bei Nachkriegs-Ungarn. Immerhin waren die Erdödys nicht wie ihre Standesgenossen des russischen Hochadels stracks enteignet und allzu oft auch gleich von den kommunistischen Revolutionären »liquidiert« worden. Die ungarische Räterepublik, die unter Führung Béla Kuns dem Vorbild Lenins und seiner Genossen nachzueifern bestrebt war, blieb im Sommer 1919 in Rest-Ungarn eine Episode von einigen Wochen Dauer. Dennoch waren ihren »Revolutionstribunalen« schon einige Hundert Menschen zum Opfer gefallen; die sogleich verkündeten Enteignungen wurden rückgängig gemacht.

Adolf Ronai hatte sein Luxushotel im nunmehr tschechoslowakischen Piešťany schon während des Ersten Weltkriegs verkaufen müssen, da die meisten der 160 Betten leer blieben. Der neue Eigentümer nannte es nun »Grand Hotel Royal«. Nach schwierigem Neubeginn gewann der Kurort wieder an Renommee: Als etwa 1929 der deutsche Star – Tenor Richard Tauber im »Royal« logierte, um sich im schwefligen Wasser von einem schweren Rheuma-Anfall (und wohl auch einer vorangegangenen, ziemlich teuren Scheidung) zu erholen, berichtete die Regenbogenpresse ausgiebig. Mit der Weltwirtschaftskrise brach das Geschäft indes schon bald wieder ein. Und die Politik tat ein Übriges: Manch ein vormals zahlungskräftiger Gast aus Deutschland befand sich wie Tauber, der jüdische Großeltern hatte, auch schon wenig später im Exil und musste zusehen, wie er sich trotz Rheuma ohne kostspielige Kuren durchschlug. Als die Slowakei 1939, nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei durch NS-Deutschland, ein Satellitenstaat von Hitlers Gnaden wurde, gingen die Geschäfte auch nicht wirklich besser. Erst recht nicht, als bald darauf schon wieder Krieg war, in den die Slowaken weit mehr nolens als volens an der Seite der Deutschen gegen die Sowjetunion ziehen mussten.

Als mit dem Einzug der Roten Armee 1945 die Wiedergründung der Tschechoslowakei möglich wurde, zog bald auch der Sozialismus ein, wiederum eine Richtungsentscheidung, die den Slowaken mehr nolens als volens beschert wurde. Das »Grand Hotel Royal« wurde »Volkseigentum«, firmierte nunmehr unter dem Namen »Hotel Slovan«. Der wurde jetzt zwar mit blauen Leuchtbuchstaben angebracht, den Glanz hat er indes dem Haus nicht zurückgebracht. Im Gegenteil: Waren die erholungsbedürftigen Gäste jetzt verdiente »Genossen« oder »Aktivisten«, so fehlten doch mit den Jahren die adäquaten Mittel zur Erhaltung einer derartigen Immobilie. Die Misere der »sozialistischen Zentralplanwirtschaft«, die eigentlich eine Mangelverwaltung war, die vom damit beglückten Volk wo immer möglich unterlaufen wurde, gab auch das »Slovan« dem Verfall preis. 1985, als der vermeintlich monolithische »Ostblock« schon längst Erosionserscheinungen zu zeigen begann, zerbröckelte auch das einstige Prestigeobjekt in Piešťany immer mehr und wurde geschlossen. Immerhin: Es wurde zugleich unter Denkmalschutz gestellt. Damit wurde der weitere Verfall des verwaisten Gebäudes nicht gestoppt, aber wenigstens die Abrissbirne ferngehalten.

Seither führt das »Ronai/Royal/Slovan« einen Dornröschenschlaf und wartet auf den investitionsbereiten und -fähigen kapitalistischen Prinzen, der es wach küsst. Ein wenig verwunderlich erscheint es schon, dass dieser Retter noch nicht auf den Plan getreten ist, denn seit dem Ende der kommunistischen Diktatur ist die Slowakei durch die – gottlob – friedliche Trennung von Tschechien (1992) nicht nur zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein wirklich unabhängiger Staat geworden, sondern sie hat auch eine rasante ökonomische Aufholjagd hingelegt. Diese wurde noch durch den Beitritt zur Europäischen Union 2004 beschleunigt.

Im Rahmen der EU ist die Slowakei eines der kleineren Partnerländer und gemessen am überbordenden Wohlstand der anderen Europäer etwa in Deutschland, den Niederlanden, Skandinavien und anderwärts hat sie noch immer einiges nachzuholen. Aber dies ist in den vorangegangenen Tagen unserer Reise deutlich geworden: Der desolate Zustand des früheren Luxushotels in Piešťany ist alles andere als typisch für die Slowakei heute.

So ist etwa das Hotel »Balnea« zwar eine klotzige Betonburg, deren Errichtung noch zu sozialistischen Zeiten Mitte der 1960er Jahre begann und deren Größe das einstige »Slovan« bescheiden anmuten lässt, doch das Gebäude ist in vortrefflichem Zustand. Selbst dem, der nur kurz durch die großzügige Empfangshalle mit ihren schweren Ledersesselgarnituren schlendert, kann nicht entgehen, dass heute nicht zuletzt Kurgäste aus arabischen Ländern das Bild mitprägen, denn in den dort selbstbewusst niedergelassenen Familienclans gibt es viele vollverschleierte Frauen. Ansonsten gehört doch die Slowakei zu den EU-Ländern, die sich mit muslimischen Flüchtlingen besonders schwertun, ja die sich bislang deren Aufnahme fast völlig verweigert haben. Aber – sicherlich gut – zahlende Gäste und hilfsbedürftige Zwangszuwanderer sind ja beileibe nicht nur hier etwas völlig anderes.

Piešťany, das war allerdings schon fast die Endstation unserer Fahrt durch die Slowakei. Natürlich stand Bratislava, das historische Preßburg, als slowakische Hauptstadt und Regierungssitz an der Spitze. Die Stadt mit der mächtigen Burg oberhalb des Donauufers ist wohl vielen Menschen in Deutschland erst kürzlich ein wenig ins Bewusstsein gerückt worden, als dort nämlich im September 2016 ein Gipfeltreffen der EU-Regierungschefs stattfand. Ob dies allerdings dem weit verbreiteten durchschnittsdeutschen Kenntnisdefizit hinsichtlich Geschichte, Gegenwart und Kultur der Slowakei wirklich abgeholfen hat, ist zu bezweifeln. Diesen Zweifel nährt eine verwunderte Frage aus meinem Verwandtschaftskreis als ich von der Reise erzähle. Ob denn, so die Frage, die Tschechoslowakei gar nicht mehr existiere? Tut sie nicht. Aber es ist ja seit der weitgehend einvernehmlichen staatlichen Trennung von Tschechen und Slowaken erst ein Vierteljahrhundert die Moldau und die Donau herabgeflossen …

Für besserwisserischen Hochmut habe ich indes keinen Anlass, denn mein eigener Nachholbedarf hinsichtlich grundlegender Kenntnisse über die Slowakei ist wahrlich kaum geringer gewesen – vor unserer Reise. Ganz gestillt ist er auch jetzt nicht. Aber ich weiß nun immerhin, dass die slowakische Geschichte lang ist, aber auch kompliziert. Denn wer sich mit ihr beschäftigt, muss eben auch verstehen lernen, dass die Slowakei bis 1918 »Oberungarn« war, folglich mindestens mit der ungarischen wie auch der Geschichte der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie der Habsburger auf das engste verflochten ist. Obwohl die Slowaken weder sprachlich noch kulturell einfach »Ungarn« oder »Österreicher« waren und sind. Und mit der deutschen Geschichte ist die Slowakei auch verflochten, wie im Fall all unserer unmittelbaren und mittelbaren Nachbarn im Guten und im Bösen. Wer sich hier bewegt, tut allemal gut daran, Unterscheidungsvermögen aufzubringen. Was gewiss nicht ganz ohne Mühe möglich ist. Aber den Blick öffnen kann für ein über viele Jahrhunderte gewachsenes, kulturell reiches ethnisches Mischgebiet, das viele Überraschungen bereithält. Also ist es hier nur für ganz kurze Zeit erlaubt, die Augen zu schließen und sich irgendwelchen Visionen hinzugeben.

All das Sehenswerte, Bewegende, zuweilen auch betroffen Machende (etwa in der ersten KZ-Gedenkstätte der Slowakei in Sered), das wir gesehen haben, hier aufzuzählen, das geht gar nicht. Da hilft nur der Appell, selbst zum Beispiel ins wunderbare Košice (Kaschau) zu fahren, das nicht von ungefähr 2013 Europäische Kulturhauptstadt war. Das 1899 eröffnete Staatstheater wird von vielen für das schönste Theatergebäude der Slowakei gehalten – sehenswert ist es allemal von außen und innen. Dort kann man etwa eine brillant getanzte Ballett-Aufführung miterleben von den besten Plätzen auf dem »Prezidentsky Balkon«, für die man zuvor je 12 Euro bezahlt hat. Man kann natürlich auch in eine – gewiss nicht minder brillant getanzte – Ballett-Aufführung der Düsseldorfer Rheinoper gehen und für das Zweieinhalbfache die günstigsten Karten im 3. Rang kaufen … Und wenn man all die sonstigen kulturellen und historischen Sehenswürdigkeiten in Nitra (Neutra), Banská Bystrica (Neusohl), Rožňava (Rosenau) oder Ružomberok (Rosenberg) bestaunt hat, wenn man die auch als Ruine noch immer imposante Zipser Burg bewundert hat, dann kann man zum Durchatmen in die Hohe Tatra fahren und im Schatten der Gerlachovský štít (Gerlachspitze, 2.655 m) lernen, dass die Karpaten doch ein »richtiges« Gebirge sind – selbst gemessen an meinen im Chiemgau und im Werdenfelser Land geprägten Maßstäben. Das wollte mir nämlich im Jahr zuvor nicht recht einleuchten, als wir im nördlichen Siebenbürgen über den Borgo-Pass fuhren, umgeben von einer wunderschönen, doch eher schwarzwaldartig anmutenden Hügellandschaft …

Das offizielle slowakische Tourismus-Portal im Internet hat also ganz recht mit seinem Slogan: Travel Slovakia – good idea!