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Studienreise 2022: Rumänien

Schwerpunkt Siebenbürgen

Begeisterung und Trauer. Kirchenburgen in Siebürgen. Impressionen der Studienreise nach Rumänien 2022

 

Wer heute nach Kronstadt (Brașov) reist, tut gut daran es so zu tun wie wir: nämlich von Bukarest her, also von Süden kommend. Dies gibt Gelegenheit nicht nur die rumänische Hauptstadt kennenzulernen, sondern auch die Landesnatur ein wenig zu »erfahren«. Denn Bukarest, das liegt in der Ebene, die den historischen Namen Walachei trägt. Und ist man dann auf der rumänischen Nationalstraße 1 (zugleich Europastraße 60) unterwegs, so wird man spätestens hinter Ploiești gewahr, dass man auf ein Gebirge zufährt. Die Karpaten, na klar, genauer, der südliche Arm des gewaltigen Karpatenbogens, den, könnte man meinen, der liebe Gott geschaffen hat, damit auch vom Mond aus jederzeit erkennbar ist, wo Siebenbürgen zu finden ist. Umschlungen nämlich vom Karpatenbogen liegt es geborgen in seiner Mitte.

Die Busfahrt indes lässt nur vage erahnen, dass der Weg von der flachen Walachei durch die südlichen Karpaten einst mühsam war. Im bequemen Sessel bedarf es schon einiger Fantasie um sich zu vergegenwärtigen, dass der Gebirgszug, den man heute ohne Anstrengung durchquert, jahrhundertelang eine Grenze gebildet hat, zwei durchaus verschiedene politische, kulturelle und wirtschaftliche Räume voneinander geschieden hat. Die Grenzfunktion der Karpaten in dieser Region wird heute auch dadurch verwischt, dass es dort keine politische Grenze mehr gibt, sondern nur rumänischen Binnenraum. Die entlang der Karpaten verlaufende Staatsgrenze zwischen Österreich-Ungarn und Vorkriegs-Rumänien verschwand erst durch den Friedensvertrag von Trianon, der – im Juni 1920 abgeschlossen – das alte Königreich Ungarn aufteilte und das seit Jahrhunderten dazu gehörige Siebenbürgen Rumänien zuschlug.

Nun gut, ein wenig mehr erahnt man vom trennenden Gebirgscharakter auf dem Weg von Bukarest kommend, wenn der Bus auf der N 1 Predeal passiert und rechts und links der Straße für Wintersport geworben wird, dann schraubt er sich durch etliche Serpentinen hinab Richtung Kronstadt. Und der historisch aufmerksame Mitreisende weiß: wir sind auf einst habsburgischem, auf österreichisch-ungarischem Boden.

In Kronstadt gibt es viel zu sehen, nicht zuletzt natürlich die berühmte Schwarze Kirche. Die imposante gotische Hallenkirche beeindruckt durch ihre Dimensionen und die reiche Ausstattung

Vom Mittelalter wird der Besucher jedoch unversehens in die jüngste Vergangenheit katapultiert: An einer der Säulen des Kirchenschiffs sind noch die Einschusslöcher erkennbar, die aus dem Dezember 1989 stammen. Damals versuchte das längst bankrotte Ceauşescu-Regime sich auch in Kronstadt noch mit Gewalt zu behaupten – vergeblich, gottlob. Freilich gab es mehrere Dutzend Todesopfer. In Kronstadt sollte man Zeit genug haben, einen kurzen Abstecher auf den Hausberg der Stadt, die Zinne (heute Tâmpa) zu unternehmen, sei es auch in einer knappen Mittagspause. Das wird indes erleichtert durch die »Telecabina«, die Kabinenseilbahn, die es dem eiligen Besucher ermöglicht rund 300 Höhenmeter vom Fuß des Berges am Rande der Altstadt bis fast hinauf auf die Zinne in zweieinhalb Minuten zurückzulegen. Die 25 Lei – also rund 5 Euro –, die man dafür investieren muss (für Berg- und Talfahrt wohlgemerkt) sind gut angelegt. Denn wenn man dann noch den kleinen Spaziergang bis ganz hinauf auf den Gipfel der Zinne bewältigt, wird man reich belohnt.
Zum einen dadurch, dass man die Dimensionen der Stadt in ihren historischen Teiletappen besser erfassen kann – denn die eigentliche Altstadt aus dem Mittelalter und der frühen Neustadt ist doch recht klein. Wie stolz und ambitioniert die Kronstädter allerdings in der reichen Handelsstadt des späten Mittelalters waren, wird erst in dieser Perspektive recht deutlich, welche viel klarer hervortreten lässt, welche Ausmaße die Schwarze Kirche hat.
Der Weg auf die Zinne ist aber auch hilfreich um das umliegende Land, um Siebenbürgen besser zu verstehen. Denn richtet man den Blick über die Stadt hinweg nach Nordwesten, öffnet sich die grüne Hochebene, das Siebenbürgische Becken, rechterhand begrenzt durch die im Dunst verschwimmenden östlichen Karpaten.

Kehrt man der Stadt indes den Rücken zu und blickt nach Süden, sieht man die walachische Tiefebene mit Bukarest – eben nicht. Denn dazwischen liegen die auf der N 1 tags zuvor durchquerten südlichen Karpaten.

Die landwirtschaftlich fruchtbare Hochebene, aber auch der vor allem im Mittelalter vorangetriebene Edelmetallbergbau entlang der Karpaten machten Siebenbürgen reich. Um das einstweilen dünn besiedelte Land und seinen Reichtum besser nutzen zu können, hatte der ungarische König als Oberherr um die Mitte des 12. Jahrhunderts Siedler ins Land gerufen, denen im Gegenzug für ihre Kultivierungs- und Erschließungsleistungen weitreichende Vergünstigungen zugebilligt wurden. Viele Zuwanderer kamen aus dem Raum an Rhein und Mosel – so entstand die deutschsprachige, ihre eigenständige Kultur ausbildende Bevölkerungsgruppe der Siebenbürger Sachsen, die das Land jahrhundertelang maßgeblich mitprägte. Das erfolgreiche Wirtschaften der Siebenbürger Sachsen und die Landesnatur weckten jedoch auch die Begehrlichkeiten diverser Nachbarn. Wer heute verstehen möchte, wodurch die einzigartige siebenbürgische Kirchenburgenlandschaft entstanden ist, sollte sich noch einmal klar machen, dass die innerrumänische Binnenlage ein historisch junges Kennzeichen des Landes ist. Das benachbarte walachische Fürstentum mit der vorläufig noch wenig bedeutenden Stadt Bukarest geriet im 15. und 16. Jahrhundert schrittweise unter die Oberhoheit des gewaltig expandierenden, militärisch schlagkräftigen Osmanischen Reiches. Dessen Sultane, die seit 1453 im eroberten Konstantinopel residierten, das zu Istanbul umbenannt wurde, schwangen sich zu einer hegemonialen Machtstellung in der ganzen Region auf. 1526 kam der junge ungarische König Ludwig II. (1506 –1526) in der Schlacht bei Mohács im Kampf gegen die Armee Sultan Süleimans I. (um 1495–1566) ums Leben. Das Königreich Ungarn wurde in der Folgezeit zum größten Teil durch osmanische Truppen erobert und besetzt, es blieb für mehr als anderthalb Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft. Die siebenbürgischen Fürsten vermochten einen labilen Zwischenstatus zu wahren, nicht unabhängig von den osmanischen Herrschern, aber auch nicht vollständig unterworfen. Über die Karpaten kamen aus osmanischem Gebiet indes immer wieder Streifscharen, manchmal Militär, manchmal einfach räuberische Banden in das reiche Siebenbürgen. Die Einwohnerschaft brauchte dann Schutz und die Ressourcen, um mindestens kürzere Belagerungen zu überstehen.

So entstanden die Kirchenburgen: Da die Kirchen ohnehin die zentralen Bauwerke der Dörfer und Städtchen waren, da diese auch meist zu großen Teilen aus Stein errichtet wurden, war ihr Ausbau zu Rückzugs- und Wehrbauten eine naheliegende Maßnahme. In die Kirchenburg konnte sich dann die bedrohte, meist bäuerliche Bevölkerung der Umgebung zurückziehen, wenn wieder osmanische Streifscharen oder andere feindlich gesinnte Truppen auftauchten, die oft hauptsächlich aufs Beutemachen, nicht auf eine dauerhafte Eroberung aus waren. Da es sich zumeist um leicht bewaffnete, berittene Truppen handelte, die kein schwer zu transportierendes Belagerungsgerät mit sich führten, genügten die Mauern der Kirchenburgen häufig als Schutz, während zugleich die für alle in der Kirchenburg aufgenommenen Familien präzise geregelte Bevorratung ein Ausharren ermöglichte. Denn die Belagerer, die in den zuvor möglichst leer geräumten Dörfern der Umgebung saßen, waren oft schneller mit Hunger konfrontiert und zogen wieder ab.

Als die habsburgischen Herrscher von Wien aus, da sie 1526 den Anspruch auf die ungarische Krone geerbt hatten, im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert das Osmanische Reich weit zurückdrängten und auch Siebenbürgen schrittweise unter ihre Kontrolle bringen konnten, verloren die Kirchenburgen nach und nach ihre Verteidigungsfunktion. So blieben lediglich einige davon vollständig erhalten. Heute zählt man noch etwa 160 Objekte dieser Art in Siebenbürgen. Ein Teil davon ist spektakulär und hat große Anziehungskraft für touristische Besucher. Insgesamt sieben Kirchenburgen sind in der jüngeren Vergangenheit auf die Welterbe-Liste der UNESCO aufgenommen worden, wodurch ihr (kultur-)historischer Wert unterstrichen wurde: Birthälm (Biertan), Deutsch-Weißkirch (Viscri), Keisd (Saschiz), Kelling (Calnic), Schäßburg (Sighișoara), Tartlau (Prejmer) und Wurmloch (Valea Viilor).

Nicht von ungefähr führte uns daher unser erster Weg von Kronstadt nach Tartlau.

Diese Kirchenburg ist nicht nur wegen ihrer Größe etwas Besonderes, sondern auch durch ihre Geschichte. Ihre Entstehung geht nämlich auf den Deutschen Orden zurück, der allerdings nur für verhältnismäßig kurze Zeit in Siebenbürgen wirkte (1211 –1225). Danach waren es Zisterzienser-Mönche, welche Tartlau übernahmen. Nachdem sich in Siebenbürgen frühzeitig schon im 16. Jahrhundert die Reformation durchgesetzt hatte, wurde auch die Tartlauer Kirche evangelisch, die Kirchenburg behielt indes ihre Funktion. Bezeichnend ist, dass das nahebei liegende Dorf zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert insgesamt über 50-mal angegriffen und besetzt, meist auch zerstört wurde, dass die Kirchenburg aber, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, stets standhielt und nicht erobert werden konnte. Die Anlage war groß genug, um rund 1.600 Menschen eine Zeitlang Unterschlupf zu bieten.

Kaum weniger eindrucksvoll ist die Kirchenburg von Honigberg (Hărman), auch wenn sie (bisher mindestens) nicht von der UNESCO besonders gewürdigt wird. Auch sie ist seit dem 13. Jahrhundert entstanden und immer wieder erweitert beziehungsweise verstärkt worden. Im Innern des Mauerringes ist noch gut erkennbar, dass die schutzsuchende Bevölkerung in einer Art »Appartementstruktur« untergebracht war.

Besonders bemerkenswert ist in Honigberg, dass im sogenannten Kapellenturm Wandmalereien aus dem 14. und 15. Jahrhundert, also der vorreformatorischen Zeit erhalten sind.

Auch die Kirchenburg Honigberg trotzte mehrfach Eroberungsversuchen. So stand im April 1612 Fürst Gabriel Báthory, der seine Macht auch gegenüber den Siebenbürger Sachsen ausdehnen wollte, mit nicht weniger als 7.000 Mann vor der Burg. Nach vier Tagen vergeblicher Belagerung und erheblichen Verlusten durch die Feuerwaffen der Verteidiger musste Báthory abziehen.

Die Kirchenburg Großau (Cristian) schützte einst eine der ältesten siebenbürgisch-sächsischen Siedlungen, die schon um die Mitte des 12. Jahrhunderts begründet wurde. Hier können Besucher noch heute sehr anschaulich lernen, welchem Zweck der »Speckturm« gewidmet war, den es in vielen Kirchenburgen gab.

Und man kann das nicht nur anschaulich, sondern auch ganz handgreiflich lernen, da die einst streng rationierten Vorräte heute, da allenfalls sehr vorübergehende touristische Belagerungen zu befürchten sind, auch käuflich erworben werden können. Und das gehört ohnehin zu unseren Reiserfahrungen: Gutes und reichliches Essen, gepaart mit größter Gastfreundlichkeit sind auch Kennzeichen Siebenbürgens.

Die nächste Kirchenburg auf dem Reiseplan ist die von Wurmloch (Valea Viilor). Um die Herkunft des merkwürdigen deutschen Ortsnamens kreisen verschiedene Spekulationen, ohne dass eine davon bestätigt wäre. Aber imponierend ist der Bau jedenfalls, nicht zufällig auch seit 1999 auf die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen. Denn Chor und Turm der Kirche, deren Ursprünge ins 13. Jahrhundert zurückgehen, wurden im 15. Jahrhundert mit trutzigen Wehrgeschossen versehen, die bis heute den Eindruck vermitteln, dass man es mehr mit einer Burg, denn mit einer Kirche zu tun hat. Wer den hier und da ein wenig heiklen Aufstieg auf den Turm wagt, wird mit ungewöhnlichen Perspektiven belohnt.

Da erscheint die nicht weniger als sieben Meter hohe Ringmauer der Kirchenburg plötzlich eher klein. Und man versteht sogleich, dass Wurmloch wie die meisten anderen siebenbürgisch-sächsischen Siedlungen als langestrecktes Straßendorf angelegt wurde.
Vor dem Abstieg auf der zuweilen bedenklich knarrenden, beachtlich steilen hölzernen Treppe im Gebälk des Turms hat der Besucher noch einmal Gelegenheit zum Durchatmen.

Sodann führte unser Weg weiter nach Meschen (Moșna) und dies nicht nur, aber auch wegen der dortigen Kirchenburg. Diese ist im 14. und 15 Jahrhundert entstanden und bei ihrer reichhaltigen Ausstattung sind es nicht zuletzt Details, die besonders schön sind und die zeigen, dass diese Kirchen zwar auch als Wehrbauten entstanden sind, dass es dennoch dabei nicht an Kunstsinn fehlte.

Doch nicht allein die Kirchenburg hat uns nach Meschen gezogen, sondern auch das »Sachsentreffen«, das große Fest der noch vor Ort in Siebenbürgen oder anderwärts lebenden Siebenbürger Sachsen also. Es handelte sich um das insgesamt schon 32. Treffen dieser Art, wieder aufgenommen nach der Zwangspause durch die Corona-Pandemie. Veranstalter war nicht zuletzt das Demokratische Forum der Deutschen in Siebenbürgen, also die Interessenvertretung der noch in Rumänien lebenden deutschen Minderheit, beteiligt war zudem die Evangelische Kirche A. B. in Rumänien, der traditionell die meisten Siebenbürger Sachsen angehört haben oder noch angehören.

Schön war es, die Lebendigkeit der Siebenbürger Sachsen von heute miterleben und einen Eindruck von der Volkskultur in ihrer Eigenart gewinnen zu können. Und natürlich gab es neben der Musik und dem Tanz auch wieder sehr gut zu essen.

Ermöglicht hat uns dieses außergewöhnliche Erlebnis ganz besonders Rainer Lehni, der nicht nur als Kuratoriumsmitglied die Arbeit der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus schon lange unterstützt, sondern zudem schon seit 2010 als Vorsitzender der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen des Verbandes der Siebenbürger Sachsen tätig ist. 2019 hat er zusätzlich das Amt des Bundesvorsitzenden des Verbandes und damit noch mehr Verantwortung übernommen. Sein siebenbürgischer Heimatort Zeiden (Codlea), wo Rainer Lehni 1972 geboren wurde, kann auch mit einer imposanten Kirchenburg aufwarten, lag aber leider nicht auf unserer Strecke. Aber er konnte uns den Zugang zu einer anderen Kirchenburg vermitteln – und damit Eindrücke jenseits der bestens gepflegten touristischen Highlights wie Tartlau oder Honigberg. Denn längst nicht alle der noch vorhandenen Kirchenburgen erfreuen sich einer hinlänglichen Pflege, da vielerorts inzwischen die zugehörigen Gemeinden ganz oder zum größten Teil dahingeschwunden sind und so Aufmerksamkeit und Ressourcen aller Art fehlen.

So kamen wir auch, einem schmalen, sich durch Wiesen und Wald schlängelnden Sträßchen folgend, nach Tobsdorf (Dupuș). In dem in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts gegründeten siebenbürgischen Dorf leben heute wohl nicht einmal 200 Menschen – darunter sind keine Deutschen mehr. So ist die im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts gebaute evangelische Kirche St. Tobias (die einst dem Ort seinen deutschen Namen bescherte) schon seit Beginn der 1990er Jahre verwaist. Auch als Kirchenburg ist sie nicht mehr auf den ersten Blick erkennbar, da die einstige Ringmauer bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgetragen wurde.

Vielleicht zeigt die Liedertafel noch die Gesänge an, die beim letzten Gottesdienst in der Kirche angestimmt wurden, das war 1991. Einen eigenen evangelischen Pfarrer hatte der Ort schon mehr als zehn Jahre zuvor nicht mehr. An Tobsdorf lässt sich wohl das Schicksal der Siebenbürger Sachsen exemplarisch aufzeigen: Mit der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, an dem Rumänien zeitweilig in einer Art Zwangsbündnis mit NS-Deutschland beteiligt war und von der Roten Armee erobert wurde, gab es die ersten große Zwangsmigrationswelle. Viele Deutsche – 1930 hatte es noch rund 300.000 in Rumänien gegeben – verließen schon jetzt das Land, oft Richtung Westdeutschland, oft noch viel weiter weg, etwa nach Kanada. Denn nach der Deportation von Tausenden Männern und besonders auch Frauen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, die oft mehrere Jahre andauerte und auch zahlreiche Todesopfer forderte, waren die im inzwischen kommunistisch regierten Rumänien verbliebenen Deutschen einer drastischen Diskriminierung ausgesetzt. In den 1970er Jahren, unter der deprimierenden Diktatur Nicolae Ceaușescus und in wirtschaftlich desolater Situation, entschlossen sehr viele der noch in Rumänien lebenden Deutschen schweren Herzens zum Verlassen ihrer Heimat. Das Ceaușescu-Regime betrieb mit diesen Menschen einen schwunghaften Handel und ließ sich die Ausreisegenehmigungen durch die Bundesregierung teuer bezahlen. Für durchschnittlich rund 10.000 D-Mark pro Kopf konnten wischen 1967 und 1989 etwa 227.000 Menschen aus Rumänien in die Bundesrepublik Deutschland übersiedeln. Zurück blieben viele ganz oder teilweise entvölkerte Ortschaften in Siebenbürgen, nachrückende Bewohner interessierten sich meist kaum oder gar nicht für das nicht-transportable kulturelle Erbe wie etwa die Kirchenburgen.

Kaum verwunderlich also, dass die Zeit an der nicht mehr genutzten, ungeheizten und den Witterungseinflüssen ausgesetzten Tobsdorfer Kirche nagt. Auch ein Laie erkennt unschwer, dass das nasse Mauerwerk nicht mehr allzu lange standhalten wird. Rainer Lehni gehört mit seiner Frau Heike Mai-Lehni zu denjenigen, die sich ehrenamtlich nach Kräften bemühen, sich dem Verfall entgegenzustemmen. Die wertvolle Orgel und das nicht minder wertvolle Chorgestühl konnten bereits gerettet werden – allerdings durch Abtransport aus Tobsdorf. Dennoch sind in der Kirche noch manche Details zu sehen, die beindrucken und zugleich traurig stimmen, da sie womöglich bald verloren sein werden – wie die über 400 Jahre alte Tür zur Sakristei mit dem kunstvollen Türgriff.

Mögen die Worte Beachtung finden, die sich im aufgeschlagenen Gesangbuch auf dem Lesepult finden. (s. Bild unter dem Beitrag)

Nicht ohne Beklemmung verlassen wir Tobsdorf, so belehrt wie Kirchenburgen eben auch aussehen können, übrigens auf demselben gewundenen Sträßchen, denn hinaus führt kein anderer Weg. Luftlinie sind es bis zur nächsten von uns in den Blick genommenen Kirchenburg lediglich wenige Kilometer, die Straßenführung indes gewährt uns weitere Einblicke ins heutige ländliche Siebenbürgen. Der Weg allerdings nach Birthälm (Biertan) lohnt sich. Die dortige Kirchenburg sticht schon durch ihre trotzige Stellung auf einer die Umgebung beherrschenden Anhöhe heraus, ihre außergewöhnliche Größe tut ein Übriges, um die Vermutung nahezulegen: hier stoßen wir wieder auf etwas Besonderes.

Tatsächlich war die zu Beginn des 16. Jahrhunderts fertiggestellte, spätgotische Kirche längere Zeit die Bischofskirche der Evangelischen Kirche in Siebenbürgen. Ihre reiche Ausstattung ist zum großen Teil erhalten, überhaupt ist die Kirche in glänzendem Zustand. Das ist nicht zuletzt Restaurierungs- und Erhaltungsmaßnamen zu verdanken, die – angesichts des weitgehenden Desinteresses des kommunistischen Staates – mit großen Mühen bereits in den 1970er Jahren von gemeindlicher Seite vorgenommen wurden.

So verwundert es auch nicht, dass es die Birthälmer Kirchenburg war, die als erstes Objekt dieser Art auf die UNESCO-Welterbeliste aufgenommen wurde, nämlich schon 1993. Das hat es mit ermöglicht, dass dort seit 2004 weitere Restaurierungen auch mit internationalen Mitteln durchgeführt werden konnten.

Der herbe Kontrast zwischen Tobsdorf und Birthälm begleitet uns gedanklich zur nächsten Station, nämlich nach Mediasch (Mediaș). Der Ort, heute immerhin noch eine Stadt mit weit über 40.000 Einwohnern, zählte einst mit Kronstadt und dem gar nicht weit entfernten Hermannstadt (Sibiu) zu den bedeutendsten siebenbürgisch-sächsischen Siedlungen überhaupt. Jahrhundertelang wurde Mediasch von einer nahezu ausschließlich deutschen Bevölkerung geprägt. Deren einstiger Reichtum ist heute noch in den stolzen Bürgerhäusern sichtbar, mehr allerdings noch in der Margaretenkirche, der Hauptkirche der Stadt. Der heutige Bau wurde im 15. Jahrhundert an die Stelle älterer Vorgängerbauten gesetzt und kann sich in seinen Dimensionen wahrhaft mit der Schwarzen Kirche in Kronstadt und beinahe auch der Hermannstädter Stadtpfarrkirche messen.

Hätten wir nur Stunden, um den kunst- und kulturhistorischen Reichtum dieser Stätte ganz auszukosten! Da ist etwa der zu einiger Berühmtheit gelangte Mediascher Altar, ein unglaublich reichhaltiges Kunstwerk, das zwischen 1490 und 1520 entstanden ist.

Doch bevor man zum Altar gelangt, fesselt einen schon das wunderbare bronzene Taufbecken, das noch deutlich älter ist als der Altar. Es wird auf das letzte Viertel des 14. Jahrhunderts datiert. In Siebenbürgen ist kein älteres Objekt dieser Art zu finden, und obwohl wir eine ganze Reihe besonders schöner Taufbecken zu sehen bekommen, ist dieses doch einzigartig.

Und wieder ist der Schritt zum Altar gehemmt, denn gleich links vom Taufbecken steht im Chorraum – das Tobsdorfer Gestühl. Hier mischen sich wieder Begeisterung und Trauer: Das Gestühl wurde 1537 in der uns schon bekannten Tobsdorfer Kirche aufgestellt und zeugt von der einstigen Bedeutung und dem Kunstsinn der Gemeinde dort. Aus Lindenholz gefertigt und mit reichen Einlegearbeiten geschmückt, war es zweifellos jahrhundertelang eine besondere Zier in Tobsdorf. Angesichts der schwierigen Erhaltungssituation wurde es allerdings schon vor Jahrzehnten abgebaut, zerlegt und in der Großauer Kirchenburg zwischengelagert. Mit Hilfe von Lehrenden und Studierenden der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen (HAWK) wurde das Gestühl jedoch seit 2010 restauriert und schließlich 2018 in der Margaretenkirche an passender Stelle wieder aufgebaut. Eine den ganzen Prozess dokumentierende Ausstellung war auch bereits im Frühjahr 2020 bei uns im Gerhart-Hauptmann-Haus zu sehen (www.hawk.de/de/newsportal/pressemeldungen/chorgestuehl-zum-karneval-duesseldorf). Wie schön und beeindruckend nun auch das Gesamtergebnis am neuen Standort sehen zu können!

In der Margaretenkirche hat übrigens auch die nicht minder wertvolle, 1731 gebaute Orgel aus der Tobsdorfer Kirche einen neuen, sicheren Standort gefunden. Sie wurde 2020 dorthin verbracht und wird wohl bald auch wieder spielbar sein.

Dass unsere vorletzte Etappe in Siebenbürgen nach Schäßburg (Sighișoara) führte, gewährleistete für uns noch einmal einen besonders schönen, traditionsreichen Ort aus der Geschichte Siebenbürgens zu sehen. Nicht von ungefähr wurde die ganze Altstadt von Schäßburg auf die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen (seit 1999).

Der Ort, dessen erste urkundliche Erwähnung von 1280 stammt, der aber sicher um einiges älter ist, war lange Zeit eines der wichtigsten Zentren der deutschen Bevölkerung. Heute sind die deutschen Bewohner indes auch auf ein kleines Häuflein zusammengeschrumpft. Die Zeugnisse ihrer Geschichte und Kultur sind indes mannigfaltig – nicht zuletzt in der auch mit Unterstützung aus Deutschland wunderbar restaurierten Bergkirche.

Schließlich: Unser Aufenthalt in Siebenbürgen näherte sich seinem Ende – Klausenburg (Cluj-Napoca) sollte die letzte Station sein. Eine unbedingt sehenswerte Station, auch weil wir hier Boden betreten, der einst zur römischen Provinz Dacia gehörte. Die historischen Wurzeln der Stadt reichen also sogar bis in die Antike zurück. Im 13. Jahrhundert kamen auch hierhin deutsche Siedler. Die Stadt war dann zeitweilig die zweitgrößte Stadt des damaligen Königreichs Ungarns. Davon zeugt auch das nicht zu übersehende Denkmal für den ungarischen König Matthias Corvinus (1443–1490), der in Klausenburg geboren wurde. Noch heute ist ein beträchtlicher Teil der Stadtbewohner ungarischer Nationalität, während die Deutschen auch hier nahezu ganz verschwunden sind. Indes: Die rumänische und die Europafahne auf dem Klausenburger Hauptplatz zeigen uns, dass wir unbeschadet dessen zusammengehören.

Ein besonderer Dank gilt abschließend Rainer Lehni – er hat uns das Sachsentreffen in Meschen ans Herz gelegt. Wie schön und bereichernd war es dieser Anregung gefolgt zu sein!

Er hat sich darüber hinaus sehr viel Zeit genommen, hat uns das Erlebnis in Tobsdorf ermöglicht, wichtige und manche allzu touristische Perspektive geraderückend. Und Rainer Lehni hat uns noch bis Mediasch begleitet, wo wir von ihm die Geschichte des Tobsdorfer Chorgestühls vermittelt bekamen – anschaulich und mit Herzblut. So hat er uns Siebenbürgen nicht nur als Vergangenheit, sondern auch als lebendige Gegenwart nahegebracht.

In diesen großen Dank möchten wir unseren Reiseleiter Hubert Schulleri einschließen, auch ein »echter« Siebenbürger Sachse, sogar einer, der wieder dorthin zurückgekehrt ist. Sein Kenntnisreichtum und – da wo es angebracht war – sein Humor haben uns ebenfalls ungemein bereichert. Er hat die schwierigen Themen nicht ausgelassen, darunter die nach wie vor vielerorts missliche Situation der Roma in Rumänien. Aber er hat – wie Rainer Lehni – vor allem mit Leben erfüllt, was wir im kleinen Museum in Wurmloch als Motto gesehen haben:

Schließlich: Spätestens als wir den Zustand der Tobsdorfer Kirche gesehen haben, war uns klar: es gibt noch ungemein viel zu tun! Und dies natürlich nicht nur an den prekären Orten wie Tobsdorf. Unser gemeinsames Interesse sollte sein, dazu beizutragen, die einzigartige Kirchenburgenlandschaft, überhaupt die Kulturlandschaft Siebenbürgen zu erhalten. Denn sie verbindet uns mit unseren deutschen Landsleuten in und aus Siebenbürgen, mit unseren rumänischen Freunden und Partnern – und natürlich auch mit den ungarischen Freunden und Partnern, die mit Siebenbürgen ihrerseits kulturell und historisch eng verbunden sind.

Wer noch mehr erfahren möchte über die Kirchenburgen und ihre Erhaltung, wer aber auch praktisch mithelfen möchte, findet viele Informationen und Möglichkeiten auf der Internetseite der Stiftung Kirchenburgen unter https://kirchenburgen.org. Diese steht unter der doppelten Schirmherrschaft des rumänischen Staatspräsidenten Klaus Johannis (bekanntlich ein Siebenbürger Sachse) und unseres Bundespräsidenten Dr. Frank-Walter Steinmeier. Letzterer hat sich gerade erst – Ende Mai 2023, also einige Monate nach uns – bei einem Besuch in Hermannstadt über die Situation der Kirchenburgen und des siebenbürgischen Kulturerbes informiert.

Vielleicht gelingt es ja mit Hilfe der Stiftung Kirchenburgen oder von anderer Seite doch noch die Tobsdorfer Kirche zu retten. Vorläufig halten wir fest an dem Motto, das uns in der Kirche von Wurmloch schon auf dem Weg über die knarrende Treppe hinauf auf den Turm – und wohlbehalten wieder herunter begleitet hat:

 

Winfrid Halder/Katja Schlenker