Online-Veranstaltung, Anmeldung über sekretariat@g-h-h.de bis 31.05., 16:00 Uhr.
Vortrag mit Textbeispielen von Dr. Katja Schlenker und Prof. Dr. Winfrid Halder
Am 12. Juli 1946, etwas mehr als einen Monat nach dem Tod Gerhart Hauptmanns im schlesischen Agnetendorf, das sich inzwischen unter der Kontrolle des wieder errichteten polnischen Staates befand, verteidigte Johannes R. Becher den mit 83 Jahren Verstorbenen in einem Brief an Wieland Herzfelde. Tatsächlich kannten beide die Verhältnisse, in denen Hauptmann die letzten knapp anderthalb Jahrzehnte seines langen Lebens zugebracht hatte, nur bedingt aus eigener Anschauung. Denn beide Autorenkollegen waren noch 1933, unmittelbar nach Errichtung der NS-Diktatur, aus Deutschland emigriert, während Hauptmann geblieben war.
Im Sommer 1946 war Becher schon wieder seit rund einem Jahr zurück in Deutschland, Herzfelde befand sich noch in New York. Bechers rasche Rückkehr hatte er seiner engen Beziehung zur Exilführung der KPD um Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht in Moskau zu verdanken. Dem schon in den 1920er Jahren bekannten Schriftsteller fiel die Reorganisation eines politisch »richtig« orientierten kulturellen Lebens zu. In diesem Zusammenhang hatte er sich bereits im Herbst 1945 – allerdings vergeblich – darum bemüht, den schwer kranken Gerhart Hauptmann von Agnetendorf, wo der Literaturnobelpreisträger von 1912 nur dank des Schutzes durch die Rote Armee noch lebte, nach Berlin zu holen. Becher glaubte, anders als Herzfelde und andere Genossen, dass Hauptmann noch nützlich sein könne. Hauptmanns Tod erübrigte alle weiteren Überlegungen.
Johannes R. Bechers Umgang mit Gerhart Hauptmann zeigt exemplarisch, dass er versuchte einen gewissen kulturellen Spielraum zu wahren. Gelungen ist ihm dies nicht – der Stalinist Walter Ulbricht sollte ihm noch deutlich machen, wer wirklich das Sagen hatte in der späteren DDR, deren erster Kulturminister Becher wurde. Zuvor hatte er dem gerade gegründeten zweiten deutschen Staat den Text seiner Nationalhymne beschert, deren Zeile »Deutschland, einig Vaterland« 1989/90 noch eine ungeahnte Karriere machen sollte. Aber wer weiß schon noch, dass diese Zeile von Becher stammt? Das an Wendungen reiche deutsche (Dichter-)Leben des Johannes R. Becher ist auch anlässlich seines 130. Geburtstages noch lehrreich.