Das politische Magazin »Der Spiegel« war sich bereits eine Woche später sicher: Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) hatte, als er am 7. Dezember 1970 völlig unerwartet bei der Kranzniederlegung am Denkmal für den Warschauer Ghettoaufstand niederkniete, für das »Bild des Jahres« gesorgt. In der »Spiegel«-Ausgabe vom 14. Dezember 1970 wurde nicht nur über die aufsehenerregende Geste des Regierungschefs der Bundesrepublik Deutschland berichtet, der sich zur Unterzeichnung des Vertrages »über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen« in der Hauptstadt der damaligen Volksrepublik Polen befand. Sondern es wurden auch die Ergebnisse einer repräsentativen »Blitzumfrage« des Allensbacher Instituts für Demoskopie mitgeteilt, welche die »Spiegel«-Redaktion in Auftrag gegeben hatte. Demnach hielten 41 Prozent der Befragten Brandts Verhalten für »angemessen«, 48 Prozent dagegen für »übertrieben«, die restlichen 11 Prozent äußerten sich nicht dazu.
Die Meinungen der Zeitgenossen von Mitte Dezember 1970 zum »Kniefall von Warschau« waren demnach stark geteilt und die teilweise hochgradig emotionalisierte Debatte darüber hatte gerade erst begonnen. In gewissem Sinne ist sie bis heute, fünf Jahrzehnte später, nicht abgeschlossen. Gewiss ist: Willy Brandt hat nicht nur für das »Bild des Jahres« von 1970 gesorgt, vielmehr gehört die Fotografie des knieenden Kanzlers bis heute zu den bekanntesten Bilddokumenten aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland überhaupt. Aber die Bewertung des historischen Moments fällt immer noch kontrovers aus. Reinhard Grätz (Jahrgang 1940) und Rüdiger Goldmann (Jahrgang 1941) haben beide als politisch aktive Menschen den »Kniefall« und dessen Vor- und Nachgeschichte miterlebt. Sie tauschen sich über ihre Sicht auf Willy Brandts Geste damals und heute aus. Diskutieren Sie mit!